Nicht-Wissen
...und sagen Sie nach dem Lesen ja nicht:"Ich weiss!"
Für manche mag es verblüffend klingen: Der Zenpraktiker strebt wie der Taoist einen Zustand an, der einem Wissenshungrigen nicht in den Kopf will - Nichtwissen. Immer wieder löst dieser Begriff Verwirrung bei jenen aus, die zum ersten Male mit dem Konzept des Nichtwissens in Berührung kommen. Der folgende Artikel soll diesem Zustand Abhilfe schaffen.
Zunächst erscheint der Begriff Nichtwissen paradox: Wir haben gelernt, dass Wissen Macht ist. Wir sind bemüht und sollen uns auch mühen unser Wissen zu mehren. In Schulen werden wir mit Wissen gemästet. Vielleicht sogar sind wir bemüht, die Erfahrungen des Lebens zu sammeln und in Wissen umzusetzen. Und da kommt jemand plötzlich und behauptet, der Zustand des Nichtwissens sei erstrebenswert!Ich versuche einmal den trügerischen Zustand des Wissens anhand eines aktuellen Beispieles darzustellen: Während ich diesen Artikel schreibe, sitze ich im Zug von Basel nach Köln. Aus dem Zustand des Wissens heraus kenne ich diese Strecke gut sowie den Eurocity Gratia, in dem ich sitze. Zwei Wagen weiter ist der Speisewagen und der nächste Halt ist Baden-Baden, ich weiß. Gelähmt im trügerischen Zustand des Wissens würde ich mich gähnend zurücklehnen und die Stunden und Minuten zählen, bis endlich Aachen Hbf erreicht ist (den ich aber auch schon kenne, ebenso mein Zuhause), da ich denke, alles hier und auch das Folgende sei mir bekannt. Nun die gleiche Szene ohne die geschwärzte Brille der Wissens, indem ich diesen und die anderen Augenblicke als neu und nie da gewesen entdecke:
Hei, azurblauer Himmel, unter dem gerade ein Falke seine Kreise zieht, draussen eine heiße Sonne, drinnen angenehm kühl, Baden-Baden Hbf, Reisende steigen ein, Italiener, Deutsche, ein Hauch französischen Parfums streift meine Nase, irgendwo klingt Michael Jackson aus einem Walkman, ein Universum eröffnet sich in jedem Augenblick und jeder Augenblick ist - hier und jetzt - neu, nie da gewesen.
Der Zustand des Wissens bewirkt, dass wir unsere Wahrnehmung aus der falschen Annahme heraus, wir wüssten, reduzieren und uns stattdessen unseren Gedankenwogen widmen und wie eine Katze hinter dem eigenen Schwanz im Kreis herum laufen. Zudem beschäftigen sich unsere Gedanken primär mit dem gestern und morgen, nur nicht mit dem hier und jetzt.
Diese Form des Wissens nenne ich gerne "Landkartenwissen". Wir zeigen z.B. mit dem Finger auf die Landkarte und sagen: "Dort ist Afrika!" Aber da ist nicht Afrika! Dort sind Farbpunkte mit Schriftzeichen auf Papier, sonst nichts.
In gewissem Sinne ist dieses Wissen eine riesige Bilder- und Datensammlung, ein riesengroßes staubiges Archiv. Und gerade in unserer verklärten und wissenden Welt ist es "hip" ein Archivar zu sein. Man sieht einen Sonnenuntergang, kramt die Archivkarte "Sonnen-Untergänge" hervor und kommentiert: "Als wir 1996 an der Algarve waren, an der Atlantikküste, da gab es Sonnenuntergänge, sagenhaft..." ohne jedoch den augenblicklichen Zauber im Hier und Jetzt erleben zu können.
Der Partner kommt vom Tagewerk nachhause und die Archivkarte "Mein Mann" fällt sozusagen beiläufig aus dem Regal: "Ach, er ist wieder da!"
Man erzählt einer Freundin vom letzten Ehekrach neulich. Kommentar: "Kenn ich! Als wir neulich....."
Der Haken all dieser Archivkarten ist der gleiche wie der mir den Landkarten. Die faszinierende Welt Afrikas berührt uns nicht, wenn wir mit dem Finger auf der Landkarte darauf zeigen. Das Landkartenwissen verhindert den Kontakt mit/die innerliche Berührung mit dem wirklichen Hier und jetzt. Die Archivkarte "Sonnenuntergang" vermag mein Herz nicht zu berühren und weniger noch zu nähren, mein vertrautes Bild vom Partner ist nicht dieser einzigartige Mensch, der da gerade zur Tür hereinkommt. Und das Wissen um die Tatsache, dass Zazen die Verwirklichung des Erleuchteten Weges ist, bringt mich der Erleuchtung selbst keinen Pups näher. Der Zenmeister Ummon nannte seinerzeit diesen Zustand des Wissens lebendig begraben sein. Warum? Nun, unsere Archivkarten helfen uns, kognitiv Subjekte modellartig zu sortieren und zu ordnen. Schön und gut als Lebenshilfe, jedoch pathogen als Lebensinhalt. Beschäftigen wir uns primär nur mit dem Landkartenwissen sind wir Kinder, die ihr mit Spielzeug rammelvolles Kinderzimmer besessen aufräumen, nach Größe, Farbe oder Themenbereich sortieren statt zu spielen, wie die Hausfrau, die die Küche poliert aber nicht kocht, letztendlich der Mensch, der sich beständig mit dem Leben beschäftigt aber vergisst zu LEBEN.
("Leben ist, was beständig geschieht, während wir mit anderen Dingen beschäftigt sind!" John Lennon)
Wer beim Kungfu-Training stöhnt: "Nein, nicht schon wieder Basisschritte!", vergisst dass er in diesem Augenblick die Techniken neu erlernen, begreifen kann - auch, wenn er/sie sie schon geübt hat. Mal ganz abgesehen davon, dass "schon geübt haben" oder "kennen" nicht gleich "können" bedeutet. Mit jedem morgentlichen Aufstehen, in jeder Stunde, ja mit jedem Atemzug sind wir Anfänger, beginnen wir einen neuen Augenblick mit all seinem Reichtum und all seinen Resourcen.
Erinnern wir uns daran, wie die Augenblicke waren, in denen wir etwas zum ersten Male, als Anfänger/innen, erfahren haben: da ist eine solche Fülle an Neuem, ein immenser Reichtum in jedem Übungsabschnitt, in jeder Technik und in uns damit eine immense Begeisterung, Freude und Kraft. All diese Aspekte sind eingeschlossen in dem japanischen Wort "shoshin", welches "Anfängergeist" bedeutet, und es ist ein Zeichen von Meisterschaft, shoshin auch nach vielen Jahren des Trainings und der Übung zu bewahren. Shoshin ist in der Bedeutung recht ähnlich dem Zen-Begriff "mushin", d.h. "Leerer Geist" oder "Nicht-Geist": der Geist ist nicht angefüllt mit Fotoalben und Kommentarbänden aus dem "Archiv", sondern frei und offen für den jetzigen Augenblick.
Als der erste Zen-Patriarch, Boddhidarma, von Indien nach China kam um dort den Buddhismus zu verbreiten verlangte der Kaiser Wu (502-550) ein Treffen mit ihm. Der Kaiser fragte Boddhidarma: "Was ist das erste Prinzip der heiligen Lehre?" Boddhidarma antwortete:" Große Weite, nichts Heiliges." Wer ist es, der vor mir steht?" fragte der Kaiser. Boddhidarma antwortete:" Ich weiß es nicht."
"Zum himmlischen Geist zurückkehren,
das heißt, zum Nicht-Geist heimzukehren."
Shao Kangxi (1011-1077)