Die Geschichte des Taijiquan
Das Problem der Verifikation
Die Anfänge des Taijiquan liegen - wie die Mythen um König Artus und die Gralslegende in unserem Kulturkreis - im Verborgenen und sind nur ansatzweise verifizierbar. Dies verwundert umso weniger wenn man bedenkt, daß beide Ansätze rund 1000 Jahre zurückliegen. Im Westen, bezogen auf Artus, findet man hier und da alte Textstellen und Aufzeichnungen, die seinerzeit von Chronisten und Mönchen angelegt wurden - nicht zuletzt dank der Christianisierung.
Problematisch für den Westen aber wurde, daß diese Texte zum einen auf lateinisch geschrieben wurden, somit nur einem kleinen Leserkreis verständlich waren, zum anderen größtenteils wieder in der Versenkung verschwanden, weil sie nicht konform mit der zu verbreitenden Glaubenshaltung waren - nicht zuletzt auch "dank" der Christianisierung. In China und auf das Taijiquan bezogen ist dies anders, denn die Sprache hat sich dort im Laufe von rund 2000 Jahren nur unwesentlich verändert, und es gab nur diese eine Sprache.
Schwierig macht hier u.a. die Verifizierung, daß alle großen Taijiquan-Meister sicherlich Wissende und Eingeweihte der Künste waren, jedoch fast ausnahmslos Analphabeten. So gab es über die Jahrhunderte zwar Meister, die "von Mund zu Ohr" unterrichteten, aber nur selten mal einen Gelehrten, der mit der Materie vertraut war und eine Abhandlung darüber schrieb. Die wenigen Texte, die den Chinesen überliefert sind, stammen denn auch größtenteils von den seltenen schriftkundigen Schülern, die die eine oder andere Lehre schriftlich festhielten. Neuerdings macht sogar das Gerücht die Runde, dass manche Taijiquan-Klassiker der Chen-Linie von Xingyi-Texten abstammen.
Das zweite Problem historischer Belegbarkeit ist im Taijiquan, daß diese Kunst bis vor ungefähr hundert Jahren absolut geheim gehalten wurde und nur innerhalb einer Familie vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde. Selbst, wenn man ab der Jahrhundertwende davon sprechen konnte, daß Taijiquan öffentlich unterrichtet wurde, so bedeutete das nicht - und dies gilt im Grunde bis heute -, daß der Lehrer alle Techniken und Prinzipien vermittelte, selbst einem Han-Chinesen. Viel mehr noch war es für die meisten chinesischen Kung Fu- oder Taiji-Meister vor 20 Jahren undenkbar, einem Nichtchinesen - und erst recht keinem westlichen Barbaren! - ihre Künste zu vermitteln. Dies nur vorab, um dem Leser eine Idee von den Begleitumständen eines historischen Rückblickes zu vermitteln.
Die Theorien des Ursprungs
Es gibt heute vier Theorien zum Ursprung und damit zum Begründer des Taijiquan:
1. Xu Xuanping, der in der Mitte des 8. Jahrhunderts (Tang-Dynastie) und mystische Kräfte entdeckt haben soll, 2. Zhang Shanfeng, ein taoistischer Priester des Wudang-Berges im 15. Jahrhundert
3. Zhang Sanfeng, ein Alchemist des Wudang-Berges im 12. Jahrhundert
(Anmerkung: Die Namen Zhang erscheinen hier in unserer lateinischen Schrift gleich, im Chinesischen aber werden sie verschieden geschrieben!)
4. Ein Meister Wang Tsungyue entwickelte es im 17. Jahrhundert.
Die am meisten verbreitete Legende ist die eines Zhang Sanfeng im 12. Jahrhundert, der zunächst die "äußeren" Kampfkünste (Kung Fu) erlernt hatte und auf seiner Suche nach Vollendung auf dem Wudang-Berg einen taoistischen Gelehrten traf, der ihn in taoistischen Übungen und Praktiken, den "inneren Künsten" unterwies. Später beobachtete er einen Kampf zwischen einer Schlange und einem Kranich. Diese Beobachtungen, sowie die Synthese der Künste, die er hatte lernen dürfen, sollen die Basis dessen sein, was später einmal Taijiquan genannt wurde.
Wer vertraut mit den chinesischen Kampfkünsten ist, kennt zahlreiche ähnliche Legenden und sicherlich trägt jede in sich einen wahren Kern. Es gibt mittlerweile eine Art Sammlung alter Taiji-Texte, die man die "Klassiker" nennt und der älteste dieser Klassiker wird denn auch Zhang Sanfeng zugeschrieben. Doch kommen wir nun von der Legenden zur Verifizierung, bzw. zu den ersten belegbaren Fakten:
Spannend wird es hier im 15. Jahrhundert, denn dort hatte sich ein guter Mann namens Qi Jiguang aufgemacht, über alle betriebenen Kampfkünste Nachforschungen und Recherchen anzustellen. Diese Arbeit veröffentlichte Qi Jiguang (1528 - 1587) in seinem Werk "Die 32 Arten der Boxformen", in denen 16 verschiedene Schulen aufgeführt waren, doch kein Schattenboxen bzw. Taijiquan war dort zu finden. Wohl aber gibt es darin Bewegungen/Techniken wie "Sich bequem die Kleidung umlegen" und "die einzelne Peitsche". Wir finden in allen chinesischen Künsten häufig solche bildhaften Namen von Techniken. Aber mehr noch: Eben diese o.g. Techniken finden wir im Taijiquan.
Im 16. Jhdt. entdecken wir auf unserer historischen Reise in dem Dorf Chenjiagou einen berühmten Kampfkunstmeister namens Chen Wangting, der zum Ende der Ming-Dynastie der Anführer der Dorftruppen war. Interessanterweise enthält sein Stil des chinesischen Boxens 29 der 32 Formen, die in Qi Jiguangs Buch über die Stile aufgeführt sind. Bekannt ist weiterhin, daß sich Chen Wangting nach dem Fall der Ming-Dynastie in die Einsamkeit zurückzog, um sich ganz dem Taoismus zu widmen.
Weiterhin wird erzählt, daß ein Meister Wang Tsungyue auf seinen Reisen in das Dorf Chenjiagou kam und dort in einer Herberge übernachtete. Dort gab es eine heftige Auseinandersetzung über Kampfkünste mit den Dorfbewohnern (die durchweg alle Chen hießen). Es kam zum Kampf und Wang Tsungyue besiegte alle. Sehr beindruckt von den Fähigkeiten dieses Meisters bat man ihn zu bleiben und dort seine Kunst zu unterrichten, was er auch tat. Von Wang Tsungyue gibt es einen klassischen Taijiquan-Text, in welchem zum ersten Male der Begriff Taiji auftaucht und wesentliche Prinzipien des Taiji behandelt werden.
Vom Chen- zum Yang-Stil
In diesen Geschichten ruht irgendwo der tatsächliche
Entwicklungsweg. Fakt ist, daß man ab Mitte des 17.Jahrhunderts von
einem ersten Taiji-Stil sprechen kann, dem Stil der Familie Chen, dem
Chen-Stil. Dieser wurde allein innerhalb der Familie tradiert und
weiterentwickelt bis in die 15. Generation. Anfang des 18. Jahrhunderts
veränderte folgende Begebenheit das Taijiquan bis in die heutige
Zeit.
LeiMuNi, Schüler von Chen Fake - Chen-Stil Taijiquan
Yang Fukui (1799 - 1872), der bereits die äußeren Kampfkünste studiert hatte und später als Yang Luchan berühmt wurde, war der Ruf der Chenfamilie zu Ohren gekommen und so suchte er sie auf, um von dem Familienoberhaupt Chen Changxing (1771 - 1853) die Kunst zu lernen. Der aber wies ihn ab, da er kein Familienmitglied war. Yang Luchan verlies das Dorf, um nach einiger Zeit zurückzukehren, da er davon gehört hatte, daß die Familie Chen einen Hausdiener suche. Verkleidet in alten Gewändern entdeckte man seinen Täuschungsversuch nicht und nahm ihn an. So konnte er zunächst unauffällig die Chen-Familie beim Training beobachten und die Übungen bei Nacht heimlich trainieren.Eines Tages wurde Chen Changxing von einem Fremden zum Kampf herausgefordert. Yang Luchan bat, für die Chen-Familie kämpfen zu dürfen und gewann den Kampf. Chen Changxing war von dem Talent und Können des Yang Luchan sehr beindruckt und nahm ihn nun als Schüler an. Dennoch war ihm auch späterhin nicht erlaubt, als Nichtfamilien-Chen den Stil der Familie Chen zu unterrichten.
Nach 30 Jahren fleißigen Übens und Studierens kehrte Yang Luchan in die Provinz Yongnian zurück, um dort einen Krämerladen zu führen, der der Familie Chen gehörte. Das Haus, in welchem sich der Laden befand, gehörte der Familie Wu und die drei Brüder der Familie Wu waren begeisterte Kampfkunstenthusiasten. Bald wurde Yang berühmt in Yongnian und man nannte seinen Stil "Seidenboxen" oder "Weiches Boxen", weil er seine Gegner mit Leichtigkeit ausnahmslos überwand, ohne sie zu verletzen. Jahre später wurde Wu Ruqing, einer der Wu-Brüder, Ratsmitglied der Gerichtsabteilung des kaiserlichen Hofes und lud Yang Luchan in die Hauptstadt Beijing ein, um dort am Hofe Taijiquan zu unterrichten. Dort lehrte er viele Edle und Hofbeamte seine Kunst, bzw. die Essenz seiner Erfahrungen. Mehrfach wurde dort sein Können auf die Probe gestellt, doch nie wurde er geschlagen und erhielt dort den Beinamen "Yang, der Unbesiegbare". Yang Luchan hatte zwei Söhne, Yang Jianhou (1839 - 1917) und Yang Banhou (1837 - 1892), die beide seine Künste lernten und wiederum verfeinerten. Yang Banhou wurde bald ebenso berühmt wie sein Vater und gleichfalls "Yang, der Unbesiegbare" genannt. Hier teilt sich wiederum der Entwicklungsweg des Taiji in verschiedene Kapitel und eines davon ist der des Yang-Stiles.
Der Yang-Stil
Yang Jianhou hatte drei Söhne und der berühmteste unter
ihnen wurde Yang Chengfu (1883 - 1936). Dieser veränderte wiederum die
Taiji-Form seines Vaters, modifizierte sie, indem er dynamische
Bewegungen herausfilterte und begann, sie im ganzen Land zu verbreiten.
Impizit ist nachvollziehbar, dass die landesweite Verbreitung eines
Stiles erfordert, ihn in mehrfacher Hinsicht zu vereinfachen.
Fu Zhongwen, Schüler von Yang Chengfu - Yang-Stil Taijiquan
Diese von ihm entwickelte Form wurde bekannt als der Yang-Stil, von manchen gerne der "alte traditionelle Yang-Stil" genannt. Yang Chengfu gab seine Lehren an seine Söhne und Meisterschüler weiter, hier zu nennen sind Yang Shouchung, dessen Töchter heute noch in Hongkong unterrichten und Yang Zhenduo, der weltweit unterwegs ist um den Yang-Stil seines Vaters zu verbreiten. Weitere Schüler Yang Chengfus waren z.B. Niu Chunming, dessen Nachfolger Yang Zhenfa Repräsentant der HWITS ist,Jiang Yukun, der Lehrer Xia Taos und Cheng Manching, der Taiji als einer der ersten auch im Westen in der nach ihm benannten Cheng Manching-Form verbreitete. Yang Shouchung hatte ebenfalls einige Meisterschüler. Der hierzulande populärste ist Chu Kinghung, der in London lebende Boss der ITCCA.
Der Wu-Stil
Ein weiteres Kapitel, das sich an Yang Luchans Söhne anschließt, mündet in der Entwicklung der Wu-Stiles. Yang Banhou, der "Unbesiegbare" ältere Sohn und Nachfolger seines Vaters, verfeinerte den Stil weiter und unterrichtete wie sein Vater am Kaiserhof der Manchus. Einer seiner besten Schüler war Quan You (1834 - 1902), ein Manchu und Hofbeamter. Dieser führte den Unterricht fort. Als es zum Sturz der Manchu-Regierung kam und Manchu-Namen öffentlich verpönt waren, nahm er den Han-Namen Wu an. Seine herausragenden Schüler waren Wang Maozhai und Quan Yous Sohn Wu Jianquan. Wu Jianquan nannte den Stil später den Wu-Stil. Seine Tochter Wu Ying Hua und ihr Mann Ma Yueh Liang unterrichteten bis vor wenigen Jahren beide mit über 90 Jahren in Shanghai. Ihr Sohn Ma Jiang Bao unterrichtet in Utrecht/NL und gibt auch in Deutschland Workshops.
Diese Traditionslinie über Wu Jianquan ist die südliche
Linie. Die nördliche Linie aber läuft über Quan Yous Meisterschüler Wang
Maozhai, der weiterhin in Beijing unterrichtete. Er gab seine Lehre
weiter an Yan Yuting und Wang Peisheng. Letzterer ist in der V.R. China
der berühmteste große Altmeister der nördlichen Linie des Wu-Stiles und
wird als Taishan, als der "große Berg" des Taijiquan verehrt. Wang
Peisheng, der Ehrenpräsident der HWITS war einer der Lehrer von Xia Tao,
des Präsidenten der HWITS. Der Autor selbst ist Schüler von Meister Xia
Tao und Repräsentant der HWITS für Deutschland.
Wang Peisheng, Schüler von Yang Yuting und Wang Maozhai - nördl. Wu-Stil-Taijiquan
Weitere Stile des Taijiquan
Yang-, Chen- und Wu-Stil sind die bekanntesten und verbreitetsten Formen des Taijiquan. Daneben existieren jedoch noch weitere, kleinere Schulen: So kennt man z.B. noch den sog. "alten Wu-Stil" von Wu Yuxiang (1812 - 1880), der ein direkter Ausläufer des Zhaobao-Boxens (einer Variante des Chen-Stiles) ist, oder den Sun-Stil von Sun Lutang (1861 - 1932), der aus einer Synthese des alten Wu-Stiles, dem Xingyi- und Bakua-Boxen den Sun-Stil gegründet wurde. Sun Jian Yun (geb. 1914), die Tochter von Sun Lutang, lebt noch heute auf Taiwan.
Im Zuge der Versportlichung des Taijiquan entstanden immer wieder neue, zumeist kürzere Formen, sowie Wettkampfformen bis hin zu dem "letzten Schrei", den Syntheseformen, die ein buntes Allerlei aus allen Stilen darstellen, aber wohl kaum noch die Essenzen der Stile vermitteln können. Nicht alles was gut ist, ist hübsch anzusehen. Nicht alles, was hübsch anzusehen ist, ist gut.