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Quo vadis Wudang?

Interview mit zwei prominenten Daoisten

Anläßlich der 4. Deutschen Qigong-Tage waren der Abt des Wudang-Tempels(Tempel des Purpurnen Feuerhimmels) und Präsident der daoistischen Gesellschaft Chinas, Wang Guangde (Mitte) und der ehemalige Leiter der Zhanfeng-Wudangschule Tian Liyang (links) erstmals zu Gast in Deutschland. Paul Shoju Schwerdt (rechts) als Vertreter des Wushan nahm die seltene Gelegenheit wahr mehr über den Wudang und seine Künste zu erfahren und interviewte für die Leser des WUSHAN-Magazins und des Taijiquan- und Qigong-Journals die beiden Wudang-Meister.

Wushan: Hierzulande kennt man - wenn überhaupt - allenfalls den Begriff Daoismus. Vom Buddhismus wissen wir mittlerweile dass es mehrere Schulen/Richtungen gibt. Wie ist es im Daojia?

WGD: Es gibt zwei große Schulen. Die eine besteht seit 800 Jahren und heißt "Die Schule der Vollkommenen Wahrheit". Ihr Ziel ist die gleichzeitige Kultivierung der inneren Wesensnatur und Lebenskraft. Ihre Tradition ist streng. Angehörige gründen keine Familien, heiraten nicht.

Dann gibt es die "Schule des wahren Einen", die dem ursprünglichen Daoismus entspricht. In dieser Schule arbeitet man neben der Kultivierung des Lebens z.B. auch mit Talismanen, welche zum Zwecke der Heilung einer Krankheit aufgemalt werden, verbrannt und in Wasser gelöst als Medizin getrunken werden. Das Schaffen eines solchen Talismanes erfordert eine große Konzentrationstiefe.

Wushan: Zu welcher Linie gehören Sie?

WGD: Wir gehören beide der "Schule des wahren Einen", dem "zheng yi pai" an. Diese Schule ist die älteste daoistische Schule Chinas.

Wushan: "Im Laufe der Zeiten hat die Tradition des Wudang sicherlich viele Entwicklungen durchlaufen. Können Sie uns etwas über diese Entwicklung und den heutigen Stand der daoistischen Tempel auf dem Wudang berichten?"

WGD: "Die daoistische Tradition findet heutzutage großen Zuspruch aufgrund ihres Strebens nach Einheit mit der Natur und aufgrund der Tatsache, dass mit dieser Tradition die Kultivierung und Erhaltung des Lebens im Einklang mit der Natur angestrebt wird. Gesundheitsvorsorge und ebenso die Erhaltung der Umwelt sind gerade auch heutzutage in der ganzen Welt wichtige Themen.

In seiner Blütezeit lebten auf dem Wudang 20.000 daoistische Mönche und Nonnen, es gab 480 Klöster und Tempel. Die Tempel machten viele Wandlungsphasen durch, hervorgerufen durch Kriege, politische und gesellschaftliche Veränderungen, durch natürliche Prozesse wie auch durch den Bau eines großen Stausees (des größten Stausees in Asien). Die Wudang-Berge sind heute der Ort mit den meisten Daoisten in ganz China, ca. 150.

Die Tempel auf dem Wudang haben verschiedene Ziele. Es geht zum einen um die eigene Übung in der daoistischen Praxis, dann steht Wudang auch im Dienst als Pilgerort für zahlreiche Pilger.

Die meisten Mönche dürfen nicht heiraten, sie ernähren sich vorwiegend vegetarisch. Fleisch wird meistens nur während der Übungsphasen gegessen, aber auch dann nur höchstens einmal wöchentlich.

Die daoistischen Mönche und Nonnen leben bescheiden und verfügen kaum über eigenen Besitz. Der Wudang ist der Ursprungsort des Taijiquan und der anderen Inneren Künste, daher ist der Wudang auch Ziel vieler Taiji-Interessierter, die hier lernen wollen. Vielen ist der Zusammenhang zwischen Qigong und Taijiquan noch nicht klar: Vor rd. 600 Jahren entdeckte Zhang Sanfeng, dass das Stille Qigong alleine den Körper schwächte und eine Kombination von Qigong mit Bewegung (Donggong) und Qigong ohne Bewegung von Vorteil sei (Jinggong). So entstand das Taijiquan.

Taijiquan, Baguazhang und Xingyiquan sind drei von rund 100 Wudangstilen. Auf dem Wudang leben derzeit rd. 50 Nonnen. Wir sind gerade bemüht den Bildungsstandard auf dem Wudang zu verbessern und dabei ein entsprechendes daoistisches Institut aufzubauen. Vor allem auch sind uns medizinische Kenntnisse wichtig.

Am 28. Mai besuchte der chinesische Staatspräsident Jiang Zemin den Wudang. Er befand, dass die Praktiken des Wudang gut sind, vor allem das Taiji, deswegen wird es jetzt auch in den Schulen eingeführt. Der Staatspräsident stufte den Daoismus als eines der höchsten Kulturgüter Chinas ein.

Der Kern der Religion ist für jedermann erfahrbar, selbst auch für nichtreligiöse Menschen. Jeder kann diese Übungen praktizieren und hierdurch entsprechende Veränderungen bewirken. Es mag sein dass Körper und Geist als getrennt wahrgenommen werden, doch durch das Praktizieren werden sie als eins erfahren. Hierbei werden Kräfte wirksam, die teils wahrnehmbar sind, teil nicht wahrnehmbar sind.

Das ungeborene Kind weiß nichts von Nahrung und wird doch genährt. Nach der Geburt entdeckt es erst die Nahrungs-aufnahme. Ziel des Daojia ist es, in Einheit mit der Natur zu sein. Qi, Jing und Shen sind die Geheimnisse und Schätze unseres Lebens. Auch der Westen erforscht zunehmend die Erkenntnisse des Daoismus. Selbst auch die Computer-wissenschaften entdecken Paralellen zum Daoismus. Das Binäre System, auf dem alle Computer aufbauen, ist letztendlich das Wissen von yin und yang.

So kann man sagen dass der Daoismus vielen Bereichen des Lebens große Dienste erwiesen hat. Der Daoismus wird heutzutage in China unterstützt und gefördert, solange keine Gesetze übertreten werden.

Wushan: Gibt es eine Verbindung zwischen daoistischen und buddhistischen Tempeln, z.B. zwischen Shaolin und Wudang?

WGD: Der Buddhismus kam von Indien. Zu dieser Zeit gab es in China nur den Daoismus, in dem man die Natur verehrte.

Im Buddhismus tut man in diesem Leben vieles für das nächste Leben, für eine bessere Wiedergeburt. Im Daoismus bemüht man sich um das Hier und Jetzt, um dieses Leben und sorgt dafür, das es recht lange währt.

Ja, es gibt enge Verbindungen, Austausch, man besucht sich wechselseitig. Auch die Verbindung zwischen Shaolin und Wudang hat sich gebessert, z.B. gab es 1998 eine gemeinsame Kampfkunstveranstaltung.

Die Ziele beider Kampfkunstschulen sind gleich - es geht um die Gesundheit des menschlichen Körpers.

Wushan: Welche Bedeutung hat der Tod und ggf. ein Leben nach dem Tod im Daoismus?

WGD: Tod und Leben ist eins. In unseren Methoden gibt es drei Wege:

a) Der Körper kommt in den Himmel

b) Der Körper stirbt, aber der Geist lebt weiter und schwebt im Kosmos umher.

c) Ein möglichst langes Leben erlangen

Wushan: Sie sprachen eben von den über 100 Wudang-Kampfkünsten. Welche genau meinen Sie damit?

WGD: Es gibt Säbel, Schwert, Speer, Stock etc., insgesamt 18 verschiedene Waffen. Zu den Wudangstilen zählen alle Inneren Stile und hierin auch ihre Unterstile, d.h. z.B. im Taijiquan Chen-Stil, Wu-Stil, Yang, Sun etc., das Gleiche gilt für Xingyi und Bagua und ihre Untergruppierungen.

Darüber hinaus gibt es noch innerhalb der Bevölkerung einige Stile, die zu den Wudangstilen zählen.

Wushan: Sie benennen häufig die Inneren Stile. Was ist für Sie der Unterschied zwischen neijia und waijia?

TLY: Es ist ein Riesenunterschied. Waijia arbeitet mit den Muskeln, Knochen und Sehnen, waijia-Anhänger machen hartes Qigong, man bedenke die Demonstrationen mit Stahlstangen u.ä., das ist waijia. Neijia ist das Gegenteil. Betont waijia den yang-Aspekt, so betont neijia den yin-Aspekt, es geht im Kampf darum yin zu werden, nicht primär anzugreifen wie im waijia.

Das Innere qi wird hier betont und der Gesundheitsaspekt steht im Vordergrund. Zhang Sanfeng betonte die Lebenspflege, während die Shaolin-Tradition aktiver ist, mehr yang ist.

Wushan: Sie sprachen in Ihrem Vortrag über die Erhaltung und Verlängerung des Lebens, davon, dass es keinerlei Dokumente über ein Ableben von Zhang Sanfeng gibt. Gibt es denn Dokumente über seine damalige Existenz, Nachweise, dass er überhaupt gelebt hat?

WGD: Ja. Es gibt in den Wudang-Archiven entsprechende Aufzeichnungen, dass er dort gelebt hat. Es gibt einen kaiserlichen Erlass, dass für Zhang Sangfeng ein Tempel gebaut werden sollte mit dem Namen "Yu Xu Gong" (Tempel der Begegnung des Wahren Menschen). Zhang Sanfeng und Zhang Shou Qing begründeten den Daoismus auf dem Wudang.

Der Daoist Zhang Sanfeng entdeckte, dass es verschiedene Kräfte gibt, weich und hart, kommen und gehen, leer und voll etc.. Durch die Prinzipien des Taijiquan fasste er sie in eine Form. Er vereinte beide Kräfte und konzipierte auf dieser Grundlage das Taijiquan.

Leer und voll sind äußerlich nicht zu sehen, der Wechsel der Gegensätze vollzieht sich oft unsichtbar. Es gibt Dinge die man sieht und Dinge, die man nicht sieht, es gibt Formhaftes und Nichtformhaftes und dies wirkt auch im Taijiquan. Der Hauptaspekt des Taijiquan ist die Lebenspflege, doch auch als Kampfkunst ist es sehr effektiv.

Das Formhafte im Formlosen ist die Essenz.

Wushan: Wir möchten es noch genauer wissen: Gab es vor beispielsweise 100 Jahren Bagua, Xingyi und Taijiquan auf dem Wudang und gibt es eine fortlaufende Wudang-Taijiquan Tradition seit Zhang Sanfeng?

WGD: Zhang Sanfeng begründete die erste Form der 13 Bewegungsformen des Taijiquan, danach wurden diese weiter verändert.

Wushan: Auch auf dem Wudang?

WGD: Ja, auch auf dem Wudang. Daraus entwickelte sich später der Chen-Stil, die Stile der Yang, Wu, etc..

Wushan: Gibt es auch eine Zhang Sanfeng-Linie?

WGD: Es sind alles innere Stile, doch auch auf dem Wudang wurde die Tradition Zhang Sanfengs in der Klostertradition fortgesetzt.

Wushan: Es gibt die Legende, dass Zhang Sanfengs Lehre weitergegeben wurde über Personen wie Wang Tsungyue und Jiang Fa. Erkennen Sie diese Linie an?

WGD: Zhang Sanfeng verlies im 23. Jahr der Ming-Dynastie den Wudang und ging nach Henan auf den Wangwu-Berg, der in direkter Nähe von Chenjiagou liegt. Von daher ist es keine Frage wie das Wudang-Taijiquan zum Chen-Taijiquan wurde, wenngleich man sich heute in Chenjiagou dagegen sträubt dass Taijiquan eine Wudangkunst sei.

Wushan: Wie schätzen sie die Gefahr ein dass durch eine Vermarktung der traditionellen chinesischen Künste die eigentliche Kultur verloren geht, sprich - wird man z.B. neben den überall auftretenden Shaolin-Mönchen auch demnächst Wudang-Mönche on tour sehen?

WGD: Es sollte um den Austausch zwischen Ost und West gehen. Wenn man die Kampfkünste aber nur vermarktet ohne die eigentliche Tradition zu vermitteln, d.h. im Grunde nur Geld damit verdienen will ist das eher gefährlich.

Es ist aber gut, die chinesischen Traditionen als solche zu verbreiten. Es geht schließlich um die Erforschung des menschlichen Körpers, des Lebens, damit letztendlich um gute und zu fördernde Sachen.

Wushan: Wir danken Ihnen für dieses Interview und die Zeit, die Sie sich für uns trotz der anstrengenden Seminare für uns genommen haben.

Das Interview wurde geführt von Paul Shoju Schwerdt, dem Vorsitzenden der Wushan International Association. Als Dolmetscherin bewährte sich hervorragend Marianne Herzog, die auch den Kontakt zu beiden Wudang-Meistern herstellte.


Nachtrag

Dieses Interview ist nunmehr einige Jahre her und seitdem wird fleissig das Gerücht verbreitet, ich "hätte offenslichtlich etwas gegen" Meister Tian Liyang. Dem ist nicht so. Als Liebhaber der traditionellen chinesischen Künste, vor allem auch der Wudangkünste, liegt mir die Bewahrung der Künste und Traditionen am Herzen. Und es gibt tatsächlich etliche wirkliche Wudang-Stile wie z.B. das Huang Ni Zhang, das Chun Yang Quan, das Wudang Wuqinxi, u.v.a..
Fakt ist: Wer Taijiquan, Xingyiquan und Baguazhang als traditionelle Wudangkünste darstellt, verwässert und ignoriert die eigentlichen Künste der Wudangregion und wer simples Taiji-Kniestreifen als Wudang-Qigong darstellt, wie anläßlich der Qigongtage Herr Tian, tut den Wudangkünsten keinen Gefallen.
Ich schätze Herrn Tian durchaus als guten Wushu-Könner mit klassischer Ausbildung und gönne ihm, dass er mit seinem Image "Meister vom Wudanggebirge" gutes Geld verdient.

Paul Shoju Schwerdt